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Freitag, 24. Juni 2016

Kommentar: Bürgerlichkeit durch Brexit

London/Brüssel (ww) Nur eine kurze Anmerkung zum Brexit. Ich habe meine Wette mit einem geschätzten Kollegen, daß sich die britischen Bürger für einen Verbleib in der Europäischen Union aussprechen würden, verloren. Heute morgen wurde ich eines besseren belehrt und war überrascht. Umgehend suchte ich in meinem Weinkeller eine trockene Riesling-Edition von 2013 des Weingutes Künstler aus meiner hessischen Heimat heraus, um meine Wettschuld zu begleichen.

Mein Wetteinsatz. Das Abzeichen "Combined Operations" gehörte nicht dazu - allerdings sammelten sich unter diesem Signet schon einmal Widerständler vom Kontinent, weshalb es mir als sinnige Dekoration erschien. Foto : JPW
Doch muss ich gestehen: Ich habe mich nicht allzusehr gegrämt. Und das liegt nicht daran, daß sich der geschätzte Herr Kollege nun über einen guten Tropfen freuen darf. Es liegt auch nicht daran, daß die Briten NATO-Partner bleiben und damit weiter dem Atlantischen Bündnis angehören, welches für die Sicherheit unserer Heimat eh nach wie vor das wesentliche Intrument ist und bleibt. Nein, ich kann eine gewisse Schadenfreude nicht verhehlen. Mir erschien (und erscheint) insbesondere die deutsche öffentlich-rechtliche Berichterstattung, die mich unablässig unreflektiert über die Weihen der Europäischen Union belehrte (und belehrt) und die fatalen Folgen eines Brexit in allen dunklen Tönen ausmalt(e), schon an den Rand des Erträglichen zu gehen.
Liebe Leute: Die Briten haben sich mit knapper Mehrheit nicht gegen Europa, sondern gegen die EU in deren jetziger Form gestemmt. Und eines ist jetzt schon klar: Ein "Weiter so" oder gar ein "Jetzt erst recht!" in Berlin und Brüssel darf es nicht geben. Mit vielen anderen europäischen Staatsbürgern erwarte ich nun dringende Reformen des demokratiedefizitären und bürgerfernen Molochs in Brüssel. Ich erwarte, daß mir durch mich legitimierte erstklassige, in der EU engagierte Staatsleute schlüssige gesellschafts-, bündnis- und sicherheitspolitische Konzepte vorschlagen, die ich entweder annehme oder als verbesserungswürdig ablehne. Diese Aufwertung haben alleine schon diejenigen verdient, die bereits heute mit viel Engagement in Brüssel für die EU-Institutionen arbeiten.  Daher erwarte ich weiterhin, daß die Ära der pseudopoliglotten Profiteure endet, die ihre Zeit und meine Steuergelder damit verschwenden, die Bildung durch Qualifikationszertifikatsverteilungspolitik zu entwerten, mein Erspartes zur Rettung skrupelloser Investmentbanker zu verprassen, mir den Krümmungsgrat der von mir verspeisten Bananen vorzuschreiben oder mir die Auswahl meiner Jagd- und Sportwaffen einzuschränken - um nur wenige Beispiele zu nennen.
Nein, der Brexit ist sicherlich keine Katastrophe, sondern hoffentlich der Aufbruch zu einem von den europäischen Bürgern legitimierten und getragenen Staatenbund! Dann ist auch die gute Flasche Wein, die jetzt an den geschätzen Kollegen geht, gerne verschmerzbar.

Jan-Phillipp Weisswange